Ein Artikel, den ich im Jahr 2017 für Dirigiertip geschrieben habe und der, nicht nur, aus der Perspektive eines Dirigenten einer Frage nachgeht, die mehr als nur einen Beitrag braucht. Aber: Damit ist mal ein Einstieg gemacht! Voila!
Zum Schreiben dieses Beitrags habe ich mich in die Bar des Hotels gesetzt, in dem ich heute während einer Serie von Kinderkonzerten mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz aus Ludwigshafen übernachten werde.
Heute Vormittag war Konzert in Neustadt an der Weinstraße. Ein guter, funktionaler Saalbau mit einem großen Parkett, dessen etwa fünfhundert Plätze voll besetzt waren mit Kindern unterschiedlichen Alters und ihren LehrerInnen.
Unser Programm bestand aus Tänzen russischer Komponisten von Glinka bis Schostakowitsch und dem Armenier Khatchaturian.
Es war ein Fest des Erlebens von Klängen, der Kraft der Musik und dem Entdecken eines Ereignisses, das nur in der unmittelbaren Interaktion zwischen Musik, Musikern und Hörenden entstehen kann, allzumal wenn diese weitestgehend jünger als dreizehn oder vierzehn Jahre alt sind und die Moderation auf unmittelbaren Dialog und direktes Feedback angelegt ist, wie ich es am liebsten handhabe.
Die Musik, die hier in der Bar läuft, entstammt einem normalen Alltags-Radiosender und ist daher eher untypisch unruhig für einen solchen Ort. Zudem wird sie dadurch obsolet, dass die Geräusche des Kühlschranks an der Theke etwa die selbe Lautstärke haben wie das, was aus den Lautsprechern kommt.
Im Gegenteil. Dieses etwas zu tiefe und bohrende „Kühlschrank-G“ passt natürlich nirgends dazu, sondern stellt zu allen Klängen eine permanente Dissonanz dar. Und da die Leistungsfähigkeit und Qualität der Boxen der Musikanlage leider nur die Mitten und Höhen wirklich wahrnehmbar macht, ist die akustische Melange alles andere als angenehm.
Also wäre Nichts besser als das.
Billiges Hotel? Ganz und gar nicht.
Warum Musik? Dieser Frage wird in einem einzelnen Beitrag nicht auf den Grund zu kommen sein. Und es wird eines der „Fortsetzung-folgt“-Themen sein, die uns bei Dirigiertip über die Zeit beschäftigen werden.
Die Gedanken dazu müssen in unserem Beruf zu einem ständigen Begleiter werden und sind von allerhöchster Relevanz.
Die Entscheidung darüber, ob- oder ob nicht Musik, in welchen Momenten wir sie anwesend sein lassen und in welchen lieber nicht, sollte so weit wie irgend möglich nicht dem Zufall überlassen bleiben. Das ist vielerorts schwer umsetzbar, weil uns an öffentlichen Orten die Möglichkeit der Einflussnahme fehlt. Im privaten und näheren Umfeld können wir der reflexhaften Anwesenheit von Hintergrundbeschallung aber durchaus aktiv begegnen.
Nicht, dass Hintergrundmusik per se etwas Verwerfliches sei.
Im Gegenteil. Gut gewählt, in passenden Momenten und technisch adäquat umgesetzt ist sie eine wunderbare Bereicherung. Musik ist dazu da, um gehört zu werden, und beileibe nicht nur in Konzertsälen.
Hier in dieser Bar ist es gerade der vielerorts anzutreffende unreflektierte Standard, dass etwas tönt, egal was und egal wie. Es „gehört eben dazu“.
Radiosender an öffentlichen Orten? No go!
Meist macht sich niemand Gedanken darüber, dass sich die Musik in Konkurrenz befindet zu den Raumgeräuschen und wie wichtig es wäre, die Auswahl den örtlichen Gegebenheiten anzupassen.
Allein ein bisschen mehr tiefe Frequenzen würden schon helfen, wenn man davon absieht, dass die Entscheidung für einen Radiosender ohnehin die letzte Wahl sein sollte und immer stört an öffentlichen Orten, egal wie der Klang eingestellt ist.
Hier spielt, wie so oft inzwischen, die inflationäre Ausbreitung von Beschallung durch die viel zu einfache Verfügbarkeit von Playlists jeglicher Art eine in Bezug auf die Wertschätzung gegenüber Musik absolut zerstörerische Rolle.
Als es noch nötig war, Musiker aus Fleisch und Blut zu bestellen und zu bezahlen, wenn man an einem beliebigen Ort die Anwesenheit von Musik wünschte, war sie auch auf Konsumentenseite noch da, die Frage nach dem Warum der Musik.
Kein Mensch bezahlt Musiker, wenn ihr Spiel nicht ausdrücklich gewünscht ist.
Wenn es auf die Frage: Warum Musik? keine ausreichende Antwort gab, dann war da auch keine Musik.
Für den durchaus denkbaren Fall, dass sich dann doch herausstellen sollte, dass der Anlass welche vertragen hätte, gab es das Singen und die Kenntnis von geeigneten Liedern. Und damit auch ein gewisses Grundwissen über Musik und den Umgang mit der eigenen Stimme.
Auch wenn das weit weg erscheinen mag vom Alltag eines Dirigenten: Das Fördern einer solchen unmittelbaren Nähe zwischen Menschen und Musik ist generell eine unserer entscheidenden Aufgaben.
Dass wir heute nur noch auf irgendeine Computer- oder Smartphone-Tastatur tippen müssen, um zu hören, was wir genau jetzt sofort und wo auch immer gerade hören wollen, wird uns als perfekte Errungenschaft der Technik zur Steigerung unserer Lebensqualität verkauft.
Genau betrachtet dient es aber weder den Menschen noch der Musik, auch wenn die grenzenlose Verfügbarkeit von Allem und Jedem uns auf verführerische Art vortäuscht, Luxus zu sein.
Das Gegenteil ist der Fall:
Etwas, das ohne größere Barriere einfach so da ist, hat über kurz oder lang keinen Wert.
Es gab Zeiten, da war Zucker teurer als Gold. Bis zur Entdeckung der Zuckerrübe.
Es gab Zeiten, da war eine Tulpenzwiebel eine Geldanlage. Bis zur Amsterdamer Tulpeninflation.
Intendant kontra Theater
Einem extremen Auswuchs an Absurdität bin ich vor Jahren in einem Theater begegnet, in welchem ich für einige Zeit Chefdirigent und Operndirektor war.
Da hatte man auf Weisung der Intendanz (!) begonnen, in den Pausen (auch von Musiktheateraufführungen!) im Besucherrestaurant Hintergrundmusik einzuspielen - irgendwelche beliebige Auswahl von Unterhaltungsmusik.
Angeblich im Sinne des Publikums...
Wo führt das hin, wenn wir den Besuchern einer Tosca als Zwischenmenü zwischen erstem und zweiten Akt ein bisschen Justin Bieber und Helene Fischer servieren!?Currywurst mit Pommes frites als Gruß aus der Küche zwischen den Hauptgängen eines Candlelight-Dinners.
Als ausübenden Musikern - und da berufsbedingt allen voran uns als Dirigenten - muss es zu unseren ersten Aufgaben gehören, die Rahmenbedingungen für ein erneutes Erstarken der Wertschätzung gegenüber Musik zu fördern.
Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der zuerst an uns selbst gerichteten Frage danach, warum
- wir Musik machen
- unsere Hörer das anhören sollten, was wir tun
- wir die Musik so und nicht anders gestalten
- unsere Hörer Musik hören wollen
- die Musik komponiert wurde, die wir spielen
- sie so und nicht anders komponiert wurde
- und so weiter und so fort.
Ich möchte hier ganz bewusst darauf verzichten, auf diese einzelnen Punkte Antworten anzubieten. Es ist eher eine Aufforderung, eigene Antworten zu formulieren und mit diesen in einen Diskurs zu treten mit anderen Menschen, die sich - vielleicht auf deine Einladung hin - auch mit diesen Fragen beschäftigt haben oder dies auf deine Anregung hin beginnen zu tun.
Denn am Ende werden sehr viele unterschiedliche und vielleicht sogar einander widersprechende Ansichten dazu nebeneinander existieren und ihre Berechtigung haben.
Aus unserer Perspektive als Dirigenten kommt noch eine wichtige Zielgruppe dazu, welche existenziell in die Problematik eingebunden ist: Die Musiker, mit denen wir es zu tun haben.
Einige von ihnen werden durch die Art, wie sie in ihren sehr speziellen Berufsalltag eingebunden sind, bisweilen den Faden zu der hier behandelten Fragestellung verloren haben.
Andere befassen sich damit aus einer durch ihr eigenes Instrument oder ihrer persönlichen musikalischen Vorlieben geprägten Perspektive.
Unser Streben muss dem Ziel gelten, alle MusikerInnen in eine gemeinsame Richtung des Musizierens zu lenken. Das bedeutet, wir müssen ein Angebot für ein gemeinsames „Warum“ der jeweiligen Musik machen.
In den Momenten, in welchen unsere Zuhörer den Weg in den Konzertsaal gefunden haben, verbinden sie damit ein Anliegen: Sie streben danach, durch das Erleben der Musik ihre Lebensqualität zu erhöhen, eine sinnliche Bereicherung zu erfahren. Sie zahlen den Preis für ihre Karte, um dadurch etwas zu erwerben, dessen Herstellung sie von uns in Echtzeit erwarten.
Damit wir das in der geforderten Qualität liefern können, müssen wir selbst Klarheit darüber haben, warum wir genau die Musik, die wir aufführen, so und nicht anders spielen, als wir es tun.
Nur dann bieten wir dem Konzertbesucher, der in diesem Moment zu unserem Kunden wird, das hochwertige Produkt, auf das dieser einen Anspruch hat und wegen dem er sich auf den Weg zu uns gemacht hat. Und für das er bezahlt hat.
Wenn es ihm am Ende nicht gefällt, darf das gern daran liegen, dass seine eigene Erwartungshaltung bezüglich der Art, mit der Musik umzugehen, von einem anderen Warum ausgegangen ist, als wir es getan haben.
Es darf aber auf keinen Fall sein, dass wir kein eigenes Angebot für ein Warum gemacht haben.
So, nun ist sie geöffnet, diese
Pandora-Büchse!
Es ist ein Thema, das in diesem Moment nicht als ein Einbahnstraßentext daherkommen soll, sondern das eine offene und kontroverse Diskussion braucht, wie ich sie mir erhoffe.
Ich wünsche eine gute Zeit mit guter Musik - und nie vergessen: Dirigieren ist Handwerk und die Eins ist immer unten.
PS:
Übrigens: Ich mag Currywurst und, wenn sie nicht aus der Tüte kommen, auch Pommes. Mit Ketchup und Mayo. Und bisweilen sogar Justin Bieber. Und Helene Fischer.
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