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  • AutorenbildStefan Malzew

"Beethoven! Alles Neunte!" bei Deutschlandfunk Kultur

Geisterkonzert - eigentlich eine sehr passende Bezeichnung. Wir haben sehr leibhaftig musiziert und dabei ganz bewusst Geister geweckt. Auch, wenn grad mal kein Publikum dabei war.


Da DLF Kultur das Ganze aufgezeichnet hat, gibt es eine wunderbare Rundfunksendung dazu, die am 19. April 2020 gesendet wurde und die man hier komplett nachhören kann. Einfach auf das Bild klicken.


Die Gedanke zu den einzelnen Musikstücken gibt es darüber hinaus hier zum nachlesen.


Bevor seine Erkrankungen ihm zu schaffen machten, war die Karriere Ludwig van Beethovens (1770-1827) die eines Klavier spielenden Superstars der Musikszene des späten 18. Jahrhunderts, vergleichbar an Popularität in heutiger Zeit nur mit Jahrhundertgrößen der Popmusik wie Elton John, Michael Jackson oder Lady Gaga.

Ort des Geschehens waren die Salons der adligen Wiener Gesellschaft, wo er als gern gesehener Gast einen der sehr beliebten Klavier-Wettstreite nach dem anderen gewann. Wer auch immer ihm als Gegner vorgesetzt wurde: Er spielte sie alle in Grund und Boden.

In der Regel lief das so ab, dass die Kontrahenten sich zuerst gegenseitig Themen vorgaben, über die der andere aus dem Stegreif fantasieren musste. In einem zweiten Durchgang sollte dann jeder nach eigenem Gutdünken etwas spielen.

Beethovens Mitbewerber waren die Crème de la Crème der Musikszene und boten alles auf, was seinerzeit an Virtuosität und Einfallsreichtum en vogue war. Aber, abgesehen von seiner offensichtlich haushoch überlegenen Spieltechnik, war das, was Beethoven unschlagbar machte, das „Nie-Dagewesene“ seiner musikalischen Ausdrucksweise. Und zwar nicht nur in der Erfindung von Form, Melodie und Harmonie, sondern auch und gerade durch die Exzessivität seiner Darbietung.

Wir können davon ausgehen, dass die „lustige Schnurre“, wie Robert Schumann den „Groschen“ nannte, einiges von der Art jener Stücke hat, die Beethoven bei solchen Gelegenheiten zum Besten gab.

Die harmonischen Eskapaden streifen noch so weit entfernte Tonarten, als lägen diese wie selbstverständlich auf dem Terrain der Grundtonart G-Dur. Der Einfallsreichtum bezüglich der beiden so unscheinbaren Motive eines aufsteigenden Dreiklangs und der darauffolgenden „Tidl-didl-dim“-Figur ist schier grenzenlos und die Charaktere der einzelnen Abschnitte überraschen mit einer atemberaubenden Vielfarbigkeit von barocker Strenge bis zu beinahe Jazz-verwandten Klängen. Was wir nicht vergessen dürfen: All das waren Dinge, die damals den Rahmen der Hörgewohnheiten aufs äußerste strapazierten, wenn nicht sprengten. Ein Effekt, den nachzuvollziehen heute schwer fällt, dem diese CD jedoch versucht, dadurch nahe zu kommen, dass die Art der Interpretationen und die Zusammenstellung der hier vereinten Stücke für jeden, der sie hört, irgendwann den Moment kommen lässt, an dem etwas erklingt, das er oder sie so noch nicht gehört haben wird.


1 „The Champ of the Piano-Battle“

Ludwig van Beethoven - Alla ingharese quasi un Capriccio op. 129 „Die Wut über den verloren Groschen“ (1798) (original)


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Eine Episode mag verdeutlichen, was für ein Paukenschlag Beethoven selbst war, wenn er wie ein Donner in die von Status und Regeln erstarrte Gesellschaft des Wiener Adels hineinfuhr.

Einer der wichtigsten Gönner und, bis zu jenem gleich geschilderten Ereignis, auch wenigen persönlichen Freunde, die Beethoven in den gehobenen Kreisen hatte, war Fürst Karl Lichnowsky. Er gab Beethoven nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern zeitweilig auch Wohnung in seinem Palais und ließ eine Vielzahl seiner Werke aufführen.

Im Gegenzug war Beethoven verpflichtet, am Klavier vorzutragen, wenn es gesellschaftliche Anlässe im Hause Lichnowsky gab. Bei einer dieser Gelegenheiten waren französische Offiziere zugegen, vor denen Beethoven sich weigerte, aufzutreten. Der Fürst, der das Spielen mit Nachdruck einforderte, konnte sich jedoch gegenüber dem starrsinnigen Beethoven nicht durchsetzen. Das gipfelte darin, dass der Musiker einfach durchs Haus davonrannte und seine Verfolger abschüttelte, indem er sich in einem Zimmer verbarrikadierte. Als man die Tür mit Gewalt öffnete, stand der Komponist mit einem hoch in die Luft erhobenen Stuhl da und drohte, damit um sich zu schlagen. Man beruhigte sich halbwegs, aber Beethoven verließ kurz darauf das Haus, ohne seine Künste präsentiert zu haben. Paukenschlag? Aber dann bitte gleich richtig!

Er war der Eimer eiskalten Wassers ins Gesicht einer gepuderten, parfümierten Welt.


2 „Pauken, Puder und Perücken“

Stefan Malzew - Fantasie über Joseph Haydns 2. Satz Andante aus Sinfonie Nr. 94 G-Dur „Mit dem Paukenschlag“ (1792)


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„Gott, welch Dunkel hier…“ sind die ersten Worte, die Florestan, eine der männlichen Hauptfiguren Beethovens einziger Oper Fidelio, zu singen hat - im Kerker, tief unter der Erde, wo er von Pizarro, dem Polizei-Gouverneur, widerrechtlich gefangen gehalten und ermordet werden soll. Ein Satz, den Beethoven tief nachempfunden haben wird, als er ihn vertonte.

Sein Vater, wenig begabter Musiker mit Schulden und starkem Hang zum Alkohol, sah in der hohen Musikalität des heranwachsenden Kindes die Chance, eine ähnliche Situation zu etablieren, wie sie im Hause Mozart stattgefunden hatte. Ein Wunderkind, das bei Hofe und anderen illustren Gesellschaften gegen Geld und für Ruhm, nicht zuletzt den des Vaters, auftritt.

Um das zu erzwingen, holte er Ludwig bisweilen aus dem Bett, wenn er nachts mit seinen Saufkumpanen betrunken nach Hause kam und zwang das Kind, stundenlang Klavier zu üben, während die Männer weiter tranken. Fehler wurden dann schonmal mit Schlägen quittiert. Oder er wurde für den Rest der Nacht in den Keller gesperrt. Wohl gemerkt: ein Keller im 18. Jahrhundert. Kalt, feucht, und: welch ein Dunkel!


3 „Finsternis und Gewalt“ - „Dark Father“

Ludwig van Beethoven - Arie des Don Pizarro aus der Oper „Fidelio (1805-14)

(Bearbeitung: Stefan Malzew)


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Einen Ausgleich fand der Junge in der Fähigkeit, sich in andere Welten zu träumen. Beispielsweise verkroch er sich oft in den letzten Winkel eines Dachbodens, wo er unentdeckt stundenlang durch ein Fernrohr sah. Schillers Satz „Über Sternen muss ein lieber Vater wohnen“ aus der ‘Ode an die Freude’ spricht auch der Sehnsucht des Sieben- oder Achtjährigen nach einem geborgenen familiären Umfeld aus dem Herzen, während er seine Zuflucht im Alleinsein fand.

Hier konnte sich seine unbeschreibliche Gabe des gedanklichen Fantasierens in Tönen ausformen, wenn es eben nicht Worte oder Bilder, sondern musikalische Klänge waren, die er im Angesicht des Firmaments seine Vorstellungskraft durchstreifen ließ.

Er hat sich aus der Finsternis herauskomponiert. Und eine Zäsur gesetzt in der Entwicklung der Musik, wie es weder vor noch nach ihm eine gegeben hat: Bis dahin war selbst die emotionalste Musik immer eine, die Gefühle beschrieb, dem Hörer aber die Möglichkeit einer gleichsam beobachtenden Distanz ließ.

Beethovens Musik hingegen löste Emotion unmittelbar aus. Sie wendete sich direkt an das Empfinden der Hörenden, was ihr die Kraft gab, eine tatsächliche, gezielt beabsichtigte Wirkung hervorzurufen.

Wenn bei Beethoven aus a-moll A-Dur wird, ist das mehr als ein Tonartwechsel, der ein heller werden beschreibt. Es wird heller.


4 „Per aspera ad astra“

Stefan Malzew - Fantasie über Beethovens 2. Satz (Allegretto) der Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 87 (1813) (StM)


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In der Zeit, mit der wir es hier zu tun haben, herrschte in Bezug auf Musik eine aus heutiger Perspektive kaum vorstellbare Situation. Denn Musik erklang ausnahmslos dann, wenn in räumlicher und zeitlicher Gegenwart Menschen da waren, die sangen oder spielten. Ansonsten war Stille. Wer Musik hören wollte, musste sie selber machen oder das Glück haben, jemandem beim Musizieren lauschen zu können.

Abgesehen davon, dass Musik dadurch eine viel höhere Wertschätzung genoss als heute, war es andererseits sehr viel aufwendiger, sich mit ihr zu beschäftigen - zumal wenn sie, wie im Falle Johann-Sebastian Bachs (1685-1750), von Komponisten stammte, die schon viele Jahre tot waren.

Eben jener Meister war es, dem Beethoven vor allen anderen die größte Verehrung zollte. Seine berühmte Bemerkung, „nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen“, legt davon ebenso Zeugnis ab wie die Tatsache, dass er sich alle nur irgendwie verfügbaren Noten Bachs schicken ließ und diese sein Leben lang aufs Genaueste studierte.

Es ist bisweilen davon zu lesen, dass Beethoven gerade in dem Metier der musikalischen Form der Fuge Schwierigkeiten hatte, sich auszudrücken, jenem Genre also, das Bach bis zur höchsten Vollkommenheit geführt hatte. Wenn dem so war, dann sicher aus einem Grund, der an einen hier schon erwähnten Gedanken anknüpft: Die Kunst des Fugen-Schreibens ist getragen durch die formal strengsten Regeln, die es in der Musik zu finden gibt. Das machte es Beethoven schwer, die ihm eigene Unmittelbarkeit der Emotion darin zum Ausdruck zu bringen. Seinen Weg gefunden hat er gleichwohl auch darin und ist mit dem letzten Satz der Hammerklavier-Sonate op. 106 und der „Großen Fuge“ für Streichquartett op. 133 zu einer Verbindung von strengster Form und Expressivität gelangt, die seiner Zeit weit vorausreichende und seither unerreichte Meilensteine setzte.


5 „Meer sollte er heißen“ (Beethovens Meister)

Johann-Sebastian Bach - Badinerie, BWV 1067, (1723) und Sinfonia a 3 Nr. 11 g-moll BWV 787, (1720)

(Bearbeitung Stefan Malzew)


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Ob es Joseph Haydn (1732-1809) lediglich für den Film in den Mund gelegt wurde (Eroica - the day that changed music forever, GB 2003) oder ob er es tatsächlich so oder ähnlich gesagt hat: Mit seiner Eroica hatte Beethoven etwas geschaffen, das genau diese Zäsur setzte. „Von diesem Tag an“, so Haydn im Film, nachdem er das Werk zum ersten Mal gehört hatte, „wird in der Musik nie wieder etwas so sein, wie es einmal war“. Was für ein Statement! Aber genau so sollte es kommen. Fortan musste jede (zumindest sinfonische) Musik sich daran messen lassen, ob sie fähig war, eine ihr immanente, eigene Aussage zu haben, die sich den Hörern unmittelbar mitteilt.

Einer, der unter diesem Druck in vergleichbarer Art stand, wie es Beethoven ein halbes Jahrhundert früher mit den Bach’schen Fugen ergangen war, war Johannes Brahms (1833-96) in seiner Annäherung an das Schreiben einer Sinfonie. Ganze elf Jahre wälzte er seinen Erstling dieser Gattung von links nach rechts, verwarf, schmiss weg, verbrannte, strich durch und fing von vorne an. Das, was davor einmal seine erste Sinfonie werden sollte, erfuhr ein „Down-grade“ zum (immerhin großartigen) ersten Klavierkonzert und bis es dann wirklich eine Sinfonie war, die er der Öffentlichkeit vorlegte, war er bereits 43 und hatte Jahre zuvor sogar bereits ein Requiem geschrieben.


6 „B & B“ (Meister Beethoven)

Stefan Malzew - Fantasie über Johannes Brahms’ 2. Satz Andante moderato aus der Sinfonie Nr. 4 e-moll op. 98 (1885) und Ludwig van Beethovens 2. Satz Andante con moto aus der Sinfonie Nr. 5 c-moll op. 67 (1808)

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Beethoven war noch keine dreißig, als sich jene Schwerhörigkeit anbahnte, aus der im Laufe der Jahre vollkommene Taubheit werden sollte. Doch war das nicht der Beginn seiner erkennbar angeschlagenen Gesundheit.

Der ‘kleine, etwas gedrungene Mann’ mit dem, ‘hässlichen’, von Pockennarben durchzogenen, dunklen Gesicht und den schwarzen Haaren, den man ob seines Aussehens auch den ‘Spanier’ nannte, litt bereits ab der Mitte seiner zwanziger Jahre unter einer schmerzhaften Darmerkrankung, die ihn sein Leben lang begleiten würde. Das jedoch, was ihn 1801 einunddreißigjährig zu dem Ausruf „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen“ bewog, war die Erkenntnis, dass sein nachlassendes Gehör ihn in absehbarer Zeit daran hindern werde, als Musiker auftreten zu können.

Einer Tatsache, der er auch dann noch immer wieder zu trotzen versuchte, als Tinnitus und stetes Rauschen ihm die akustische Wahrnehmung seiner Umgegend längst verhinderten. Es ergaben sich zwangsläufig Situationen, die er, der Star-Musiker, als erniedrigend empfunden haben muss: Sei es eine notgedrungener Maßen abgebrochene Aufführung seines fünften Klavierkonzertes, das er vom Klavier aus spielend zu leiten versuchte oder sein Ansinnen, Proben zu seinem Fidelio zu leiten, bei denen er als Dirigent nicht mitbekam, wie um ihn herum alles mehr und mehr durcheinander geriet und man ihn dazu bringen musste, das Pult zu verlassen.

Immer wieder tauchen Belege für Selbstmordgedanken in seiner Korrespondenz auf.

Aber: Beethoven hatte ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass die Musik, wie er sie schuf, eine Rolle spielen werde für die Welt, dass er die Aufgabe hatte, mit seinen Kompositionen eine Botschaft zu vermitteln und dass er sich dem nicht entziehen durfte.

„Solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben - nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte, und so friste ich dieses elende Leben“. (aus dem ‘Heiligenstädter Testament, 1802)

Wir kommen nicht umhin, voll Dankbarkeit zu bemerken, wie viel, aus den letzten zwei Jahrhunderten nicht mehr wegzudenkende, musikalische Kraft nur deshalb existiert, weil Beethoven sich dazu entschlossen hatte, den Kampf aufzunehmen und den Rest seines Lebens - immerhin noch ein Vierteljahrhundert - trotz aller Beschwerden der Kunst zu widmen.

Die Krankheit hat ihn rücksichtslos gemacht. Anderen Menschen gegenüber ebenso, wie zu sich selbst. Bis hin zu Verwahrlosung und einem veritablen Alkoholismus. Aber eben auch gegenüber jeglichen Konventionen. Den gesellschaftlichen begegnete er mit Missachtung. Denen der Musik, indem er sie sprengte, wodurch er ihr Dimensionen eröffnete, die bis dato undenkbar waren.


7 „Per caligo ad aspera“

Stefan Malzew - Fantasie über: Ludwig van Beethovens 1. Satz der Klaviersonate Nr. 8 op. 13 (Pathetique, 1798)


*

Caligo: Dunkel, Leid, Elend, Trübsal, Ungewissheit, trüber Zustand, Verdunkelung vor Augen

Aspera: Das Raue

Beethoven hatte bereits als Kind gelernt, sich eine eigene Welt in seinem Inneren zu erobern. Von dem Moment der Erkenntnis an, dass sein Leben nur immer tiefer in den stinkenden Rachen des Schicksals führen werde, begann er jedoch jene große Erzählung, mit der er durch seine Musik dieser inneren Welt ans Licht verhalf, ohne sie noch anzupassen an Erwartungshaltungen und Hergebrachtes.

Die Botschaft, der sich von da an alles immer mehr nähert, ist diejenige der Neunten Sinfonie. Jenes Werk, das wie kein anderes zuvor oder danach die in Töne gesetzte Version jener berühmten Aussage Immanuel Kants (1724-1804) ist: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Eine Notiz mit diesem Wortlaut findet sich in einem von Beethovens Konversationsheften - wir wissen: Beethoven hat Kant gelesen.

Spannender weise findet sich bereits in der Einleitung zu Beethovens 2. Sinfonie (1800-1802, also der Zeit jener zitierten ‘Schicksal in der Rachen greifen’-Aussage und unmittelbar vor dem erwähnten Heiligenstädter Testament) ein Takt, der fast wörtlich dem Hauptmotiv des ersten Satzes der Neunten (1821-1824 mit ersten Skizzen ab 1815) entspricht. Auch wenn die Zweite ansonsten noch durch deutliche Züge der zu dieser Zeit etablierten Klangwelt geprägt ist, mag sich Beethoven mit diesem Takt den musikalischen Schüssel geschliffen haben, mit welchem er unmittelbar danach das Tor zur Welt einer Eroica aufschloss - und allem, was folgen sollte und einmal gipfeln würde in der Einzigartigkeit der letzten Klaviersonaten oder Streichquartette und den Monolithen der ‘Missa Solemnis’ und eben der ‘Neunten Sinfonie’.

Ebenso in diese Zeit gehört die Entstehung derjenigen Klaviersonate, die von fremder Hand nach Beethovens Tod einmal die namentliche Verknüpfung mit dem Schein des Mondes erhalten sollte - was ihr in keiner Weise gerecht wird. Im Gegenteil. Es ist die tiefe Einsamkeit zwischen Todessehnsucht und dem Aufbegehren gegen den Sog, sich unausweichlichem Leid zu entziehen, von der hier erzählt wird.

Dass er selbst dieses Werk als eine ‘Fantasia’ überschrieb, erlaubte ihm musikalische Freiheiten jenseits der ansonsten so strengen Sonatenform und eine uneingeschränkte Fokussierung auf die hohe Kunst, Emotionen so unmittelbar auszudrücken, dass sie sich dem Hörer direkt erschließen.

Ähnlich dem Eröffnungsstück der CD können wir in dieser Musik erahnen, wie es geklungen haben mag, wenn Beethoven, am Klavier fantasierend, seine Kunst zum Besten gab. Allerdings nun nicht in der Intention zu brillieren, sondern der, sein innerstes Wesen durch die Musik nach außen zu kehren.

In dem Corona-bedingt als „Geister-Konzert“ produzierten Live-Mitschnitt, der dieser CD zugrunde liegt, habe ich den berühmten ersten Satz unmittelbar in den emotionalen Ausbruch des Dritten übergehen lassen und kurz vor dessen Ende eine Reminiszenz eingefügt, die diesen Ausbruch rückwirkend noch einmal in den klanglichen und emotionalen Kontext des Beginns stellt.

Und während fast alle anderen der hier versammelten Stücke Bearbeitungen von Originalkompositionen sind, soll nun Beethoven selbst mit einem seiner ausdrucksstärksten Werke zu Wort kommen, in welchem er uns an seiner Sehnsucht nach einem glücklichen Leben und dem Aufschrei innerer Verzweiflung so ungeschützt wie kaum sonst teilhaben lässt.


8 „Alles andere als eine Mondscheinsonate“

Ludwig van Beethoven - Sonata quasi una fantasia cis-moll op. 27 Nr. 2, 1. und 3. Satz (original) (1801)

*


„Aber was kein Stift ausdrücken könnte, ist die undefinierbare Traurigkeit, die in allen seinen Zügen lag – während unter dicken Brauen wie aus dem Grunde von Höhlen Augen hervorblitzten, die, obwohl klein, einen zu durchbohren schienen.“ So beschrieb es Gioachino Rossini (1792-1868) aus seiner Erinnerung an eine viele Jahre zurückliegende Begegnung mit Beethoven gegenüber Richard Wagner (1813-1833).

Es war 1822, als der dreißigjährige Rossini den zweiundfünfzigjährigen Meister während seiner Arbeit an Missa-Solemnis und Neunter Sinfonie in seiner Wiener Wohnung besuchte und eben jenen Eindruck dieser Traurigkeit bei Beethoven hatte, der im Gewimmel der vielen Beschreibungen zwischen ‘Wut’ und ‘Unordnung’, ‘Grobheit’, ‘Ungeduld’, und ‘Launigkeit’ so gut wie nie von jemand anderem erwähnt worden zu sein scheint. Hat da der geniale Opernkomponist etwas erkennen können, das ihm seine für menschlich-emotionale Nuancen trainierte Beobachtungsgabe wahrnehmbar gemacht hat?

Zwei Jahre später, bei der Uraufführung seiner Neunten Sinfonie, stand Beethoven während des Konzertes auf der Bühne neben dem Dirigenten und verfolgte das Geschehen, den Blick auf die Mitwirkenden gerichtet. Und hörte nichts. Nicht das Wunder an Musik, das da gerade die Menschen zum ersten Mal erreichte - und nicht den rasenden Jubel und tosenden Applaus, der bereits nach dem zweiten Satz und umso heftiger unmittelbar nach dem Ende losbrach. Jemand fasste ihn vorsichtig an der Schulter und drehte ihn in Richtung des Publikums, was er selbst nicht gewagt hatte, da er nicht wusste, ob überhaupt jemand klatschte. Die etwa zweitausend Zuhörer dieses denkwürdigen Ereignisses warfen schreiend Kleidungsstücke und Mützen in die Luft, damit Beethoven den Jubel wenigstens sehen konnte.

Welch eine Einsamkeit muss er gefühlt haben! Wie abgrundtief traurig musste es gewesen sein, in einem solchen Moment weiter nichts hören zu können als das Rauschen des eigenen Blutes, wie es zischend und pfeifend die eigenen Ohren durchzieht.

Woher kommt Trost?

Zu seinen Lebzeiten gab es ihn wohl nicht. Es ist nicht überliefert, dass es jemanden gegeben hätte, der ihn in den Arm nahm. Weder in der erfüllten Beziehung zu einer Frau, noch - früher als Kind - durch Eltern oder Großeltern.

‘Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt!’ - ein Satz Schillers, dessen allumfassendes In-den-Arm-nehmen Beethoven in eine Melodie gegossen hat, deren Tonschritte an Expressivität kaum zu überbieten sind.

Wir möchten diesen Gedanken umkehren und nun dem Meister auf musikalische Weise eine Umarmung zukommen lassen, indem wir zu ihm ins Tal der traurigen Töne hinabsteigen, das Kind an der Hand nehmen und gemeinsam mit ihm durch heller werdende Musik wandeln - ohne Grenzen zwischen Stilen und Zeiten, gipfelnd in dem Erlebnis, dass die Botschaft seiner berühmtesten Melodie auch in den Klangfarben populär-zeitgenössischer Musik ihre Kraft entfaltet.


9 „Umarmung in der Zeitlosigkeit“

1. Gustav Mahler - 4. Satz Adagietto aus der Sinfonie Nr. 5 cis-moll (1904)

2. Robert Schumann - „Träumerei“ aus Kinderszenen op. 15 (1838) (original)

3. Wolfgang Amadeus Mozart - 2. Satz Andante aus dem Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur KV 467 (1785)

4. Ludwig van Beethoven - Das Götterfunken-Thema und Finale aus der 9. Sinfonie, Zitate aus der Klaviersonate Appassionata (op. 57), dem 3. (op. 37) und 5. (op. 73) Klavierkonzert sowie Motiven aus den vorigen drei Werken (1.-3.)


*

Wie werden wir einem Meister wie Beethoven gerecht? Sicher auch, indem wir seine Werke immer und immer wieder studieren, entschlüsseln, aufführen, hören. Ihren Geheimnissen und ihrer Weisheit auf die Schliche kommen, ihre Botschaft jeder jeweils heutigen Zeit erfahrbar machen.

Genau so sicher aber auch dadurch eben nicht, wenn wir unsere Verantwortung bereits als erfüllt betrachten, indem die niedergeschriebenen Töne lediglich immer weiter poliert, jedes Kurz oder Lang und Laut oder Leise der Noten in scheinbarer Perfektion und den vorgegebenen Tempoangaben vorgetragen sind.

Und erst ganz sicher nicht dadurch, dass sein Götterfunken-Thema zu Silvesterfeuerwerken in der falschen Tonart, gefolgt von platten viertaktigen Popsequenzen aus einem Midi-Sampler, einer stumpfsinnig überlauten Beliebigkeit geopfert wird.

Beethoven gerecht zu werden heißt, Musik - und zwar nicht nur seine - ebenso bewusst zu hören, wie sie erfunden wurde.

Beethoven gerecht zu werden heißt, dafür Sorge zu tragen, dass Kinder in eine Welt hinein aufwachsen, in der das Wunder des Hörens den ihm zustehenden, unabgelenkten Platz hat.

Und damit nicht genug!

Beethoven gerecht zu werden heißt auch, zu gewährleisten, dass Kindern jenes Grundwissen mit auf den Weg gegeben wird, das erforderlich ist, um erkennen zu können, worin der Reichtum einer Musik besteht, und wodurch sie sich mit diesem Reichtum unterscheidet von der Unmenge an akustischem Fast-Food, die unsere Gegenwart inzwischen verschmutzt wie der Plastikmüll die Weltmeere.

Beethoven gerecht zu werden bedeutet, die Stille wertzuschätzen, aus der heraus Musik ihre Schönheit erst offenbaren kann.


Danke, Ludwig van Beethoven.


10 „Tochter aus Elysium“

Ludwig van Beethoven - Götterfunken-Thema aus der 9. Sinfonie

*

Zugabe. Bei so viel Ernst in der Sache könnte doch glatt ein Aspekt zu kurz gekommen sein.

Beethoven soll einen blitz-gescheiten und schlagfertigen Humor gehabt haben, wenn er - in seinen zwanziger Jahren und noch im Besitz des Hörvermögens - in Gesellschaft war.

Vielleicht kann das den Schlüssel liefern zu einem der best-gehüteten Geheimnisse um eines seiner zwar kleinsten, aber doch berühmtesten Werke.

Wer war Elise?

Da man beim besten Willen keine Elise in seinem Umfeld der Entstehungszeit des Stückes findet, bei der man ganz sicher sein kann, dass sie die Widmungsträgerin ist, gehen die Mutmaßungen darüber sogar soweit anzuzweifeln ob der Schriftzug über den Noten nicht auch etwas anderes geheißen haben könnte als Elise - Therese zum Beispiel. Denn eine solche könnten die Biographen glaubhaft nachweisen als Dame, der dieses zauberhafte Klavierstück potenziell zugeeignet gewesen sein mag und Beethovens Handschrift war zweifelsohne eine Herausforderung. Jedoch weit gefehlt: es war eine Elise, wie ich im Folgenden zweifelsfrei nachweisen werde. Lassen Sie sich überraschen.

Stellen wir uns dabei ruhig vor, dass er uns zuzwinkert, der etwa 1,60 m kleine, etwas stämmige und schon recht schwerhörige Fast-Vierzigjährige mit dem dunklen, unrasierten Gesicht und den wirren Haaren. „Es ist der Name, den ich komponiert habe!“ könnte er in seinem rheinländisch gefärbten Akzent gesagt und dabei spitzbübisch den Mund zum Ansatz eines Lächelns verzogen haben, während seine Augen dieses Lächeln vielleicht schon nicht mehr begleiteten zu dieser Zeit. Wer weiß.

Fünf Buchstaben hat der Name - und fünf erste Töne hat die Melodie, die in einem einfachen Hin- und Her pendeln, bevor sie dann herniedersteigen. Die Notennamen (keine Angst: das wird mühelos verständlich auch für nicht in die Notenschrift Eingeweihte!) sind: E-Dis-E-Dis-E.

Auf Anhieb fällt erst einmal nur auf, dass sowohl beim Namen, wie auch in der Melodie, am Anfang und am Ende ein ‘E’ stehen. Aber sonst? Wie gesagt, Beethoven war nicht ohne Humor und ein potenzielles Beispiel davon werden wir hier gleich entdecken.

Der Ton ‘Dis’ in der Musik wird in anderem Kontext auch als ‘Es’ bezeichnet - warum soll das nicht stehen für ein ’S’? Dann hätten wir nämlich: E-S-E-S-E und damit stimmen schon drei der fünf Buchstaben: E-.-.-S-E.

Fehlen noch ein ‘L’ und ein ‘I’, wofür sich beim besten Willen keine Notennamen finden. Kein Problem für den Wortwitz eines Beethoven! Mitten im Stück, an einer Stelle, an der genau diese kleine pendelnde Melodie wieder auftaucht, weist der Meister den zweiten und dritten Ton davon der linken Hand zu, wofür es in spieltechnischer Hinsicht für den Pianisten absolut keinerlei Notwendigkeit gibt. Es muss also einen versteckten Grund geben dafür und worin soll dieser liegen, wenn nicht darin, dass wir von dem „links“ die ersten beiden Buchstaben, ‘L’ und ‘I’ ausborgen für jene zwei Töne, die in unserem Wortspiel noch fehlen? E-L-I-S-E.

Damit ist wohl für immer geklärt, dass es um niemand anderen als eine echte Elise gehen kann. Und wenn wir der Musik in Ruhe lauschen, dann erzählt sie selbst uns vielleicht davon, dass es einfach das spielende Mädchen von nebenan war, das Beethoven zu diesem keinen Klavierstück inspiriert hat, das ihm selbst so sehr Petitesse war, dass er ihm nicht einmal eine Opuszahl zugedacht hat.


11 „Elise for Ever“

Ludwig van Beethoven - ‘Für Elise’ WoO 59 (1810)

(Bearbeitung: Stefan Malzew)

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